Inhalt

Einleitung


Introduction


Lesungen/Präsentationen



Bestellung


Download (Sollfrank-Kriegerinnen-Vorwort.pdf, 207kb)


Wir müssen uns in Kriegsführung üben. Das heißt nichts anderes, als für bestimmte Welten zu kämpfen und gegen andere; für ganz bestimmte Arten zu leben und in der Welt zu sein – und nicht andere; und genau das bedeutet es, zu revoltieren. Für bestimmte Dinge zu sein und gegen andere ist eine Art ‚Krieg der Welten’, aber es ist Krieg als Teil einer Proposition für Frieden, einer nicht ungefährlichen Proposition. (…) Noch können wir etwas bewegen, aber die Zeit zu handeln ist knapp. Und allzu bald werden wir wissen, ob es Frieden überhaupt geben kann.
Donna Haraway

Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.
Gilles Deleuze

Menschen und Dinge tauschen ihre Eigenschaften aus und ersetzen sich gegenseitig. Das ist es, was technologische Projekte im Innersten ausmacht.
Bruno Latour

Das neue planetare Bewusstsein wird das Maschinische neu denken müssen.
Félix Guattari

Nimm den langen Kampf gegen die hochmütige und privilegierte Abstraktion wieder auf. Vielleicht ist das der Kern des revolutionären Prozesses.
Adrienne Rich



Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert
Vorwort
von Cornelia Sollfrank

In welchem Verhältnis stehen Technologie und Geschlecht zueinander? Wie produzieren sie sich wechselseitig in immer neuen Anordnungen? Können sie überhaupt als zwei getrennte Kategorien gedacht werden? Und müssen nicht eine Reihe weiterer Agent_innen ins Spiel gebracht werden, um ein vollständiges Bild zu ergeben?

Dieser Band versammelt eine Auswahl aktueller technofeministischer Positionen aus Kunst und Aktivismus. Seit dem Cyberfeminismus der 1990er Jahre haben sich die Denk- und Handlungsansätze vervielfacht, oft auch als Reaktion auf neue Formen und Dimensionen von Ausbeutung und Diskriminierung. Die Belange erweitern sich von der rein informationellen Dimension und ihrem emanzipatorischen Potenzial in die materielle Dimension. Fragen der Technik verbinden sich mit Fragen von Ökologie und Ökonomie. Online und offline sind nicht länger getrennte Sphären, sondern zu einem Kontinuum geworden. Die Kunst agiert symbolisch mit eingängigen Bildern, Metaphern und Narrativen, aber sie überschreitet und verunklart teilweise auch die Grenze zum Aktivismus. Im Aktivismus drückt sich der Protest gegen die technokapitalistischen Auswüchse in der Suche nach neuen Instrumenten und Werkzeugen aus, nach Orten, die gemeinsames Handeln, gemeinsames Lernen und Verlernen ermöglichen. In aller Unterschiedlichkeit zwischen den Positionen gibt es dennoch Verbindendes; sie alle verhandeln Geschlechterpolitik unter Bezugnahme auf Technologie und verstehen ihre Praxis als Einladung, an ihre sozialen und ästhetischen Interventionen anzuknüpfen, dazuzukommen, weiterzumachen, nicht aufzugeben. Die Agierenden sind divers: unter Pseudonym arbeitende Aktivist_innen und Kollektive, aber auch Künstler_innen und andere Wissensproduzent_innen innerhalb und außerhalb akademischer Disziplinen. Ihre Praxen sind vernetzt, aber vielfach in geschichteten, parallelen Universen von internationaler Kunstszene, akademischer Lehre und Forschung – vornehmlich im globalen Norden –, politischem Aktivismus – vornehmlich im globalen Süden – und dem Techno-Underground. Sie in einem Band zu versammeln bedeutet, viele Territorien zu durchqueren, viele Grenzen zu überschreiten – auf der Suche nach der Möglichkeit gemeinsamen Denkens und Handelns.

Der Begriff Technofeminismus dient dazu, die diversen Praxen nicht nur aufzuzeigen, sondern durch ihre Nachbarschaft in diesem Band auch in Berührung und in Austausch zu bringen. Von Judy Wajcmans gleichnamigem Buch *1 geprägt, zeigt der Begriff kritische, spekulative und queere Positionen an, die – in Theorie und Praxis – das kodierte Verhältnis von Geschlecht und Technik hinterfragen. Wajcman selbst verortet Technofeminismus an der Schnittstelle von Science and Technology Studies (STS) und feministischen Technologiestudien. Von Interesse ist also, wie sich insbesondere Geschlechterverhältnisse, bzw. die Hierarchie sexueller Differenz, auf wissenschaftliche Forschung und technologische Innovation auswirken und welchen Einfluss diese umgekehrt auf die Konstituierung von Geschlecht ausüben. Übersetzt in technofeministische Alltagspraxen heißt das nichts anderes, als für eine gerechtere und für alle lebbare Welt in unserer Technowissenschaftskultur zu kämpfen.
Donna Haraway winkt im Hintergrund. Schon vor über 30 Jahren haben wir von ihr gelernt, dass es kaum eine Chance gibt, außerhalb von Technologien zu leben– was sie im Übrigen nicht bedauerte, sondern, im Gegenteil, immer als Chance verstand. Ihre feministische Kritik an den Technowissenschaften führte entsprechend nicht zu einer anti-wissenschaftlichen oder technikfeindlichen Haltung, sondern dazu, eine umfassendere, stärkere und wahrere Wissenschaft zu fordern, eine, die klare Standpunkte beinhaltet, sowie Wissenschaft und Technik für emanzipatorische Zwecke neu zu konzipieren. Sie trug wesentlich dazu bei, wissenschaftliches Wissen als historisch patriarchalisch und Wissenschaft und Technologie in enger Beziehung zu Kapitalismus, Militarismus, Kolonialismus und Rassismus zu dekonstruieren. Im Zentrum ihres antiessenzialistischen Ansatzes steht die Kritik an der behaupteten Objektivität wissenschaftlichen Wissens. Anstatt die Wissenschaft als körperlose Wahrheit zu verstehen, betont Haraway ihr soziales Eigentum, einschließlich ihres Potenzials, Erzählungen zu schaffen. Wie Judy Wajcman es ausdrückt: „Für Haraway ist Wissenschaft Kultur in einem noch nie dagewesenen Sinne. Ihr zentrales Anliegen ist es, den ‚Gottes-Trick‘, die vorherrschende Sicht der Wissenschaft als rationales, universelles, objektives, nicht-tropisches Wissenssystem zu entlarven.“*2 Damit einher geht die Infragestellung dichotomischer Kategorisierung, wie z. B. Wissenschaft/Ideologie, Natur/Kultur, Verstand/Körper, Vernunft/Emotion, Objektivität/Subjektivität, Mensch/Maschine und physisch/metaphysisch auf der Basis ihrer inhärenten hierarchischen Funktionen. Besonders relevant für technofeministisches Denken ist Haraways Dekonstruktion des „Natürlichen“ als kulturelle Praxis. Ihr Konzept des „situierten Wissens“ gilt als feministische Erkenntnistheorie, die ihre eigenen kontingenten und lokalisierten Grundlagen ebenso anerkennt wie die kontingenten und lokalisierten Grundlagen anderer Wissensformen. Haraways Konzept des Cyborg*3 bot ein konkretes konzeptionelles Werkzeug, um feministisch-sozialistische Politik im Zeitalter der Techno-Wissenschaften neu zu denken. Sie wurde zur Ikone für die sich auflösenden Grenzen zwischen dem Biologischen und dem Kulturellen, zwischen dem Menschlichen und der Maschine und damit Sinnbild für die Verqueerung alter Dichotomien, denn erst jenseits der alten (gedachten) Grenzen würden neue Formen sozialer und politischer Praxis möglich. Die Künstlichkeit der Körperlichkeit und die kollektive Natur der Subjektivität des Cyborgs sowie seine inhärente Politik der Interkonnektivität waren eine wesentliche Inspiration für den Cyberfeminismus.*4
Die Bedingungen digitaler vernetzter Technologien begeisterten den Cyberfeminismus der 1990er Jahre und befeuerten ihn, ungeahnte techno-hybride Identitäten zu proklamieren und damit eine neue, intime Beziehung zwischen Frauen und Technologie zu beschwören. Nachträgliche Kritik an gefährlichen Essenzialisierungen*5 der frühen Ansätze von Sadie Plant und VNS Matrix oder der mangelnden politischen Selbstidentifikation eines Old Boys Networks*6 lassen außer Acht, wie wirkungsmächtig der Begriff und die damit verbundenen (politischen) Fantasien waren – und das obwohl, oder vielleicht gerade weil er sich von einem simplifizierenden Politikverständnis fern hielt und stattdessen alle Register der Verqueerung zog. Es gab nie einen Cyberfeminismus, oder den Cyberfeminismus, sondern eine Vielfalt von feministischen techno-utopischen Visionen großer disziplinärer und inhaltlicher Spannbreite, die mit dem Old Boys Network eine Plattform fanden, auf der sie sichtbar werden und sich in Nachbarschaft entfalten konnten.*7 Nachdem OBN seine Aktivitäten 2001 einstellte, fehlte ein übergeordnetes Forum, und die unterschiedlichen Praxen zogen sich in ihre jeweiligen Kontexte zurück, was seine Strahlkraft schwächte.

Trotz der damit verbundenen Unschärfen spielt der Begriff Cyberfeminismus auf der Suche nach neuen technofeministischen Ansätzen aber immer noch bzw. wieder eine wichtige Rolle – sei es als Gegenstand nostalgischer Verklärung, als Objekt der Kritik an seiner uneinheitlichen politischen Strategien oder als historische Referenz für eine damals neue Ära der Verbindung von Technologie und Geschlecht. Entsprechend beinhaltet auch die neue Welle des Interesses an Cyberfeminismus, die seit ca. 2014 zu beobachten ist, verschiedene Stränge: neben unkritischen Versuchen, den Cyberfeminismus in einer nostalgischen Geste wiederbeleben zu wollen, ohne dabei die veränderten techno-materiellen sowie technopolitischen Bedingungen zu berücksichtigen*8, bemühen sich einzelne Events wie die Post-Cyberfeminist International oder das Festival 1st Interrupted = “Cyfem and Queer”*9 hingegen, historische Ansätze mit aktuellen Praxen in Verbindung zu setzen und ausgehend von der Praxis neue theoretische Positionen zu formulieren. Ein vollkommen eigenständiger Begriff von Cyberfeminismus hat sich hingegen z. B. in Lateinamerika entwickelt*10, wo sich die cyberfeministischen Aktivist_innen explizit gegen die theoretischen Vorläufer_innen abgrenzen und den Begriff ausschließlich in ihren eigenen Praxen begründen. Als weiteren Versuch der Abgrenzung zum pluralistischen Cyberfeminismus kann auch der Xenofeminismus gewertet werden, der mit dem neuen Begriff einen konsistenten politischen Ansatz markieren möchte.*11

Das neue Interesse am Cyberfeminismus ist eine gute Ausgangsposition, um die dringend erforderliche kontextualisierende Auseinandersetzung voranzutreiben und die historischen Positionen der 1990er Jahre mit aktuellen Iterationen abzugleichen und nicht zuletzt auch das Potenzial des Begriffs für noch zu entwickelnde Ansätze zu überprüfen. Was kann der Begriff Cyberfeminismus heute noch leisten? Kann er den veränderten Bedingungen angepasst werden, oder ist es sinnvoller ihn zugunsten neuer Begriffe hinter sich zu lassen? In jedem Fall ist es angebracht, bei seiner Verwendung einen Hinweis darauf zu geben, auf welches Verständnis von Cyberfeminismus man sich bezieht.

Die großen technopolitischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte erfordern jedenfalls, das Visier der Cyberbrille zu öffnen und zu schauen, auf welchem Fleckchen Erde man steht, und während man den Blick in die Zukunft gerichtet lässt, sich auch umzusehen, was in unmittelbarer Nachbarschaft mit anderen Körpern, anderen Wesen, unorganischer und organischer Umwelt gerade geschieht. Diskurse wie der Neue Materialismus und queere Dekonstruktion arbeiten daran, machtvolle Dichotomien zu „verqueeren“ und verändern durch das Einbeziehen neuer Agent_innen das Verständnis von wirklichkeitsstiftenden Mechanismen. Es ist die Rede von einer „Agency der Dinge“*12, also einer Wirkungsmacht von Materie, die außerhalb einer sprachlichen Konstituierung unabhängig von menschlichem Willen und Handeln existiert und als materielle Realität die Menschen umfasst – und nicht umgekehrt. Queere Dekonstruktion führt die feministische Dekonstruktion von Herrschaftsverhältnissen fort, indem sie Mechanismen des „Othering“ offenlegt und auf neue Bereiche ausdehnt: Gender, Sex, Behinderung, Natur, nicht-menschliche Wesen, Maschinen, sozial und global Schwache oder andere Subalterne. Wie wird das Andere konstruiert, das die „ideologische und kulturelle Grundstruktur für Ausbeutung und Unterwerfung ist“?*13 „Wer diese dualistischen Hierarchien in Richtung komplexer Relationen und Verschränkungen von Akteur_innen durchbrechen hilft, handelt, könnte man sagen, immer schon queer/feministisch oder ökofeministisch“,*14 schreibt Yvonne Volkart und schlägt für ihre neue Theorie des Zusammenspiels von ökologischen und technofeministischen Aspekten den Begriff Techno-Öko-Feminismus vor. Die neue Denkbewegung besteht darin, Technologie nicht nur mit (sozial-)politischen und kulturellen Kategorien zusammenzudenken, sondern auch mit materiellen/ökologischen.

Mögen die Bezeichnung Techno-Öko-Feminismus, gewisse Denkfiguren des Neuen Materialismus sowie Methoden der queeren Dekonstruktion auch neu sein, der ihr zugrundeliegende Gedanke, eine Verbindung herzustellen zwischen verschiedenen Ökologien – Umwelt/Ökologie, der sozialen Ökologie und der mentalen Ökologie – ist bereits in den Schriften von Félix Guattari aus den 1980er Jahren angelegt.*15 Mit der Begründung seiner „Ökosophie“ ist der Appell verbunden, die Vorstellung davon, was Ökologien beinhalten, zu erweitern und durch das Zusammendenken vorher getrennter Sphären der vorherrschenden aktiven und passiven Zerstörung der Umwelt sowie dem „reduktiven Ansatz des Szientizismus“ etwas entgegenzusetzen. Ohne das Verständnis des inneren Zusammenhangs zwischen den verschiedenen Bereichen und die Konstruktion ihrer Trennung als Machtinstrument offenzulegen, wird echte Transformation nicht möglich sein. Dem damals weitgehend imaginierten Potenzial der aufkommenden interaktiven Medien, also dem, was heute als Internet bezeichnet wird, weist Guattari eine zentrale Rolle zu, sollen sie doch die Einzelnen aus ihrer Passivität befreien und neue kollektive Handlungsweisen ermöglichen. Wie sehr genau diese neuen Medien selbst wieder eingebettet sind in ideologische, machtpolitische und materialistische Bedingungen, die sie hervorbringen und konfigurieren, konnte sich erst durch ihre flächendeckende Verbreitung zeigen. Und genau darum geht es dem Technofeminismus des beginnenden 21. Jahrhunderts. Genauso wie kein Außerhalb der Technologie existieren kann, ist Technologie immer schon durchdrungen von den Bedingungen ihrer Entstehung.

Als eine andere wichtige Vordenkerin der aktuellen technofeministischen Positionen gilt Donna Haraway, die nicht nur, wie bereits beschrieben, durch ihre frühen Arbeiten Weg bereitend war, sondern seit 30 Jahren immer wieder mit dem, was sie mit „SF“ abkürzt – und das sowohl für „Science Fiction“ als auch für „Speculative Feminism“ stehen kann – den scheinbar ausweglosen, von Menschen gemachten Katastrophen-Szenarien verblüffende und inspirierende Perspektiven abgewinnt. In ihren aktuellen Texten*16 entwickelt sie mit dem „Chthuluzän“ die Idee eines Zeitalters der „Sympoiesis“, also dem Miteinander und der Ko-operation der Multi-Species, der vielen Arten, zu denen auch der Mensch gehört, und trägt damit nicht nur zu einer Dezentrierung des Subjekts bei, sondern ergänzt damit die neu-materialistischen Ansätze, denen an einem sorgsameren Umgang mit der materiellen Welt sowie der menschlichen und außermenschlichen „Natur“ gelegen ist. Aus dem Cyberfeminismus, bei dem es vielfach um die Chancen von Deterritorialisierung und Immaterialisierung ging, entwickelten sich übergreifende, verschränkende und transversale Positionen, die sich nicht mehr damit begnügen, nur mit Zeichen und Information im virtuellen Raum zu agieren, sondern die verschiedenartige Räume und Qualitäten verbinden und denen es um nicht weniger als das Leben selbst geht.

Mitten drin, in all den neuen Bewegungen des Überschreitens, Durchquerens und Verbindens findet sich die Haltung der Sorge. Auf vielfältige Weise kümmert sie sich, trägt Sorge und macht sich Sorgen, ist bereit, Verantwortung zu übernehmen, verankert im Hier und Jetzt, Ausschau haltend nach neuer Beziehung. Während auf der Suche nach Antworten auf globale wie lokale Probleme immer weitere wissenschaftliche Forschungen betrieben und technologische Lösungen ersonnen werden, trägt die Sorge zur Etablierung eines neues Wissens bei, eines Wissens, das Objektivierung verweigert und nicht nur beobachten und repräsentieren will, sondern auch transformieren; sich mit den Dingen in Beziehung setzen, affiziert werden und so sich selbst und die Welt in einem Prozess der Co-Transformation verändern.*17 Tronto und Fisher definieren Sorge als: „Alles, was wir tun, um ‚unsere Welt’ zu erhalten, fortzusetzen und zu reparieren, damit wir so gut wie möglich darin leben können. Diese Welt schließt unsere Körper, uns selber und unsere Umwelt ein, alles, was wir in einem komplexen, lebenserhaltenden Netz zu verweben suchen“.*18 Im Hinblick auf technofeministische Praxis beinhaltet Sorge tragen, technologische Gefüge nicht nur als Objekte, sondern als Knoten sozialer und politischer Interessen zu verstehen und somit auch in die Produktion von Wissen(schaft) und Technik zu intervenieren. Hier verlässt die Sorge ihr angestammtes Revier der Reproduktion und beginnt, sich mit der Komplexität von Technologie und Technowissenschaft in Beziehung zu setzen – insbesondere auch deren destruktiven Aspekten. Der Wunsch ist, alle Betroffenen und alles Betroffene in das Werden der Dinge verantwortlich einzubeziehen, eine mensch-zentrierte Politik zu erweitern und damit auch der materiellen Bedeutung des Sorgetragens gerecht zu werden. Neue Mensch-Maschine-Verbindungen, nämlich solche, die auf Beziehungen der Sorge beruhen, gilt es zu erfinden.

In seiner Ökosophie fragt Guattari, „wie man Individuen dazu bringen kann, aus sich selbst herauszutreten, sich abzukoppeln von ihren unmittelbaren Beschäftigungen, um über die Gegenwart und die Zukunft der Welt zu reflektieren“*19, und merkt an, dass die kollektiven Anstöße dazu fehlen. Die hier vertretenen Positionen eignen sich genau dafür. Jede einzelne ist in sich komplex, verbunden mit einem eigenen Netzwerk aus Referenzen, Diskursen, Personen und anderen Agent_innen. Sie weisen hin auf eine Vielfalt – oft marginalisierter Erfahrungen –, die hier nur inSchlaglichtern aufscheinen kann und sich nicht zuletzt in den heterogenen Textformaten, Stilen und Schreibweisen widerspiegelt.

Technofeministische Positionen

Sophie Toupin beschreibt feministisches Hacking als eine doppelte Erweiterung, um nicht zu sagen einen doppelten Hack: zum einen wird dem herkömmlichen Technofeminismus eine materialistische Dimension hinzugefügt, zum anderen wird der Begriff „hacking“, der sich in der Regel auf technische Kategorien wie Software und Hardware bezieht, um „Geschlecht“ als Anwendungsbereich erweitert. Möglich wird diese Bewegung auf der Grundlage eines Verständnisses von Geschlecht als Technologie, d. h. Geschlecht wird nicht als (biologische) Gegebenheit gedacht, sondern als immer wieder aufs Neue hervorgebracht von den heterogenen kulturellen Prozessen, die es veränderbar machen. Von formierenden Kulturtechniken in diesem Sinne auszugehen, ermöglicht es, von den Gegebenheiten auf die Herstellung dieser Gegebenheiten, d. h. auf diejenigen Verfahren, die zur Produktion dieser Gegebenheiten führen, zu lenken. Grundlage dafür ist das von Foucault geprägte Verständnis von Sex als Technologie, das Teresa de Lauretis bereits Mitte der 1980er Jahre in eine „Technologie des Geschlechts“ übertragen und damit wesentlich dazu beigetragen hat, Gender aus der binären Konzeption sexueller Differenz herauszulösen und an die Stelle von Differenz Heterogenität, und an die Stelle natürlich gegebener Körper komplexe politische Naturalisierungsstrategien zu setzen.*20
„Das Geschlecht und auch den menschlichen Körper als Technologie zu verstehen, macht die Praxis des Hacking also viel zugänglicher, da dies ein für Feminist_innen vertrauter Einstiegspunkt ist“.*21 Wesentlich dabei ist, dass feministisches Hacking eine Kombination meint von technischer Kompetenz, feministischen Prinzipien und sozial-politischem Engagement. Anders als im traditionellen Hacker_innenumfeld ist technische Kompetenz hier also nicht um ihrer selbst willen erstrebenswert – bzw. um damit in der meritokratischen Hackordnung der Hackerkultur Anerkennung zu finden –, sondern es ist eine notwendige Voraussetzung, um bei der Entwicklung und im Umgang mit Technik emanzipatorischen Aspekten Geltung zu verschaffen. Zu den prägenden feministischen Prinzipien der neuen Hackerkultur gehören Kollektivität in Form von gemeinsamem Handeln, informeller und formeller Transfer von Wissen auf der Basis feministischer Pädagogik sowie die Produktion von Sichtbarkeit – und zwar nicht im Sinne von individuellen oder kollektiven Positionen, sondern vielmehr der Sichtbarmachung der verborgenen Dispositive des Technologiebereichs, der Off-Räume, die selbst nie im Bild, aber für das Sichtbare konstituierend sind. Dazu gehören die physischen, ökonomischen und materiellen Strukturen, in die sie eingebettet sind. Grundlage dieser emanzipatorischen Widerstandskultur ist die Neudefinition des Verhältnisses von Online- und Offline-Räumen, die wiederum auf der Produktion eigener neuer Räume und Strukturen basiert.

Ein kollektives Dokument hat Spideralex für diese Publikation zusammengestellt. Durch ihre Tätigkeit für das Gender and Technology Institute, das Trainingsprogramme für digitale, physische und psycho-soziale Sicherheit für Genderaktivist_innen auf der ganzen Welt durchführt – vornehmlich im globalen Süden –, hat sie Gelegenheit, mit diversen Gruppen und Initiativen zusammenzuarbeiten. Für ihren Text hat sie 24 Positionen des lateinamerikanischen Cyberfeminismus ausgewählt. Die Gruppen/ Personen/ Initiativen kommen in Form von Zitaten ausführlich zu Wort, und werden von Spideralex erläutert und mit eigenen Kommentaren ergänzt. Die Lebensumstände, auf die sich die Aktivist_innen in ihren Äußerungen beziehen, die Beschreibungen der alltäglichen Gewalt sind schockierend und lassen die mehrfache Unterdrückung aufscheinen: Sie leben in postkolonialen Ländern, mit eingeschränktem Zugang zu Bildung, Studium, Berufstätigkeit; sie leben in politischen Systemen ohne Meinungsfreiheit und dafür im Einflussbereich unheilvoller Allianzen zwischen Drogenmafia, Kirche, staatlicher Korruption und Machismo, in denen besonders Frauen und Genderaktivist_innen Repressionen ausgesetzt sind. Obwohl auch im globalen Norden die Angriffe zunehmen – an Häufigkeit und Intensität*22 –, scheinen die vielfältigen Möglichkeiten digitaler Kommunikation in besonderer Weise die machistische Kultur Lateinamerikas zu verstärken. So ist es nicht verwunderlich, dass der wichtigste Punkt der Materialsammlung der (cyber-)feministischen Selbstverteidigung gewidmet ist. Das bedeutet in erster Linie Schutz vor Gewalt, online und offline. Zu den Strategien der Cyberfeministinnen gehören emotionaler, physischer (Kampfkunst) und technischer Beistand,*23 das Bereitstellen sicherer Räume zum gemeinsamen Lernen und zur Bewusstseinsbildung sowie kollektive Selbstfürsorge. Immer wiederkehrende Begriffe in den Texten sind „Solidarität“ und „Sororität“ (schwesterliche Liebe), „Gemeinsamkeit“ und „Kollektivität“, Begriffe, die „aus sicherer Entfernung“ fast pathetisch klingen, in den überindividualisierten, entfremdeten, neoliberalen undpost-kapitalistischen Industriegesellschaften oft nur noch als leere Formeln herumirren und allenfalls dazu taugen, ein weiteres Konsumprodukt damit zu vermarkten. Hier allerdings, im Angesicht der realen Bedrohung von körperlicher und geistiger Unversehrtheit füllen sie sich wieder mit Bedeutung. So ist die Rede nicht nur von einem permanenten Kampf, sondern sogar von Krieg, einem Krieg, dem sich die lateinamerikanischen Cyberfeministinnen auf allen Ebenen zu stellen bereit sind. Dabei speist sich ihr Verständnis von Cyberfeminismus, der in vielen Versionen existiert, nicht aus den künstlerisch-akademischen Vorläufern des globalen Nordens, wie sie immer wieder betonen, sondern verdankt sich einzig ihrer Praxis, einer Praxis, die in erster Linie aus den bedrohlichen Umständen erwächst. Dennoch zeigen viele der Praxen und die damit verbundenen Konzepte eine erstaunliche Nähe zu aktuellen akademischen Diskursen um das erweiterte Verständnis von Ökologie und Sorge wie z. B. in der Verbindung von Öko- und Techno-Feminismus*24 oder die Ökonomien von Open Access/ Freier Software und Open Content. Technik wird nicht länger als separate Sphäre gedacht, sondern als eingebettet in materielle und ideologische Produktionsweisen. Dabei erschöpft sich ihr Kampf nicht in der Reaktion auf die Umstände, sondern lässt in seiner wütenden Entschlossenheit eine Vision von Zukunft aufscheinen, ein Leben voller Freude und jenseits der Angst. Der Weg dahin nimmt aber den „Umweg“, die materiellen Bedingungen, in denen sie und ihr Handeln eingebettet sind, nicht nur zu reflektieren, sondern auch zu transformieren.

Ein konkretes Instrument, um in Gemeinschaften ein Bewusstsein für die eigene Kommunikationskultur zu entwickeln, dafür, wie – absichtlich oder unbewusst – Ausgrenzungen und Diskriminierung erfolgen, ist der Code of Conduct (Verhaltenskodex). Femke Snelting reflektiert über ihre eigenen Erfahrungen beim Erstellen eines solchen Regelwerks in der Gemeinschaft der Libre Graphics Meetings und untersucht dabei Genese, Ausrichtung und Spezifika dieser Kodizes bei ausgewählten Freie-Software-Projekten. Zu den wichtigsten Absichtserklärungen gehören demnach, Inklusion und Diversität anzustreben, Übergriffe und Belästigung möglichst zu vermeiden, Konfliktlösungsstrategien einzusetzen, um Eskalationen vorzubeugen und, in konkreten Fällen von Fehlverhalten, Maßnahmen einzuleiten. Werden Codes of Conduct nicht dafür missbraucht, Verantwortung an ein Dokument auszulagern, sondern aktiv gelebt, können sie, wie in zahlreichen feministischen Hacker_innen-Initiativen vorgelebt, missbräuchlichem und übergriffigem Verhalten im Rahmen einer verbindlichen Gemeinschaft tatsächlich entgegenwirken. Ihr feministisches Potenzial sieht die Autorin darin, dass die Arbeit daran eine Plattform für Selbstreflexion schafft, auf der alle Beteiligten lernen, eigenes Verhalten zu hinterfragen und gemeinsame Werte zu diskutieren, zu formulieren und in alltägliche Praxis umzusetzen. Damit wird eine Gemeinschaft zwar nicht automatisch sicherer oder diverser – nachweislich sind im Bereich Freier Software z.B. trotz vorhandener Verhaltenskodizes immer noch über 97% der Entwickler_innen männlich und weiß –, aber Umgebungen, die einen Code of Conduct für sich erarbeitet haben, zeigen damit an, dass sie ihr Bewusstsein für diskriminierendes und repressives Verhalten schärfen und diesem aktiv entgegenwirken möchten. Die Kodizes kommen also einer Art Einladung zur Diversität gleich. Der Bereich der Freien Software hat eine große Nähe zur Wirkungsmacht von Sprache; Codes und Programme sind nichts anderes als Handlungsanweisungen, und der Schritt, die eigenen Codes zu verfassen und zu reflektieren, kann durchaus auf andere Bereiche übertragen werden. Gerade bei temporären Events und kurzfristig ausgerichteten Projekten besteht noch großer Bedarf, formalisierte Selbstreflexion zu betreiben und durch die konsequente Einsetzung und Umsetzung von CoCs für einladende und sichere Bedingungen zu sorgen. Das Potenzial dieser Regelwerke ist also längst nicht erschöpft.

Im Anschluss an die erste Veröffentlichung der Feministischen Prinzipien des Internets in deutscher Sprache erzählt die Aktivistin hvale vale die Geschichte ihrer Mitarbeit daran und gewährt Einblicke in das Zustandekommen des Dokuments. Die Association for Progressive Communications (APC) ergriff 2014 die Initiative, als sie über 50 Aktivist_innen, vornehmlich aus dem globalen Süden, nach Malaysia einlud. Nach mehreren Treffen, an denen inzwischen über 100 Frauen und queere Menschen beteiligt waren, wurden nach einem mehrjährigen Diskussionsprozess 17 Prinzipien verfasst, die aus der Verbindung von feministischen, Menschenrechts- und Internetrechtsbewegungen entstanden sind. Grundlagen der Arbeit waren Intersektionalität und die Annahmen, dass Technologie und Internet nicht neutral sind, und dass es sich beim Internet nicht um ein Werkzeug, sondern um einen Raum handelt, in dem Widerstand ebenso notwendig ist wie in allen anderen Arten von Raum. Das in Ko-Kreation erstellte Dokument versteht sich als Work in progress, als Plattform und Gemeinschaft, und lädt alle Interessierten ein, sich an der Diskussion, der Übersetzung und Verbreitung der Prinzipien zu beteiligen bzw. „sie einfach zu leben“. Im Zentrum stehen neben der Forderung nach Zugang und solidarischer Ökonomie Forderungen zu informationeller und sexueller Selbstbestimmung. „Sie [die Prinzipien] sind eingeschrieben im digitalen Zeitalter. Sie kommen aus dem und gehen ins Internet und von und zu unseren Körpern. Sie stehen für Gefühle und Freude, aber genauso für Gerechtigkeit und Rechte“. Wie jede kollektive Geste, die einerseits globalen Gültigkeitsanspruch hat, sich andererseits aber auf Lokalität, Embodiment und Diversität beruft, bieten die feministischen Prinzipien des Internets und die darin enthaltenen Widersprüche eine ergiebige Grundlage zum Weiterarbeiten und –denken.

Christina Grammatikopoulou untersucht in ihrem Text eine Reihe von zeitgenössischen feministischen Kunst- und Protestphänomen, die sie als virale Performances von Geschlecht zusammenfasst, und unternimmt den Versuch, diese mittels der von ihnen angewandten Strategien zu ordnen. Die ausgewählten Projekte finden entweder ausschließlich online statt, wo sie soziale Medien als neue Orte für performative Interventionen erproben, oder sie arbeiten gezielt mit der Kombination von online- und offline-Raum, um mit den wechselseitig bedingten Dynamiken viraler Verbreitung zu experimentieren. In den Online-Performances werden Themen wie Körperpositivität, sexuelle Übergriffe oder Geschlechterstereotypen verhandelt, wobei das Spiel mit der Inszenierung, mit der Vermischung oder Verwischung zwischen echt und falsch, zwischen Bekenntnis und manipulativer Taktik kennzeichnend sind. Die Autorin extrahiert aus den vielen Beispielen zwei grundsätzliche Konzepte, die sie mit „Noise“ und „Viralität“ bezeichnet. Als Noise definiert sie „eine manipulative Kommunikationsstrategie (...), die durch bewusstes Stören oder Verwirren auf Kommunikationsplattformen versucht, entweder eine Botschaft oder Information für ihre Empfänger zu verunklaren oder zu verfälschen oder gezielt falsche Informationen zu lancieren.“ Die andere Strategie, Viralität, zielt auf eine möglichst große horizontale Verbreitung von Inhalten durch die Nutzer_innen selbst, was eine gewisse „Qualität“ voraussetzt, wie z.B. Provokation, Humor oder eingängige Bildgestaltung, aber auch die Wechselwirkung zwischen Körpern auf der Straße und den Bildern davon im Netz, die wiederum mehr Menschen auf die Straße locken. Grammatikopoulou verortet die verschiedenen Erscheinungsformen des zeitgenössischen Feminismus, die sie untersucht, alle räumlich in dem Kontinuum von online und offline, das sie als „Expanded Space“ benennt. Die einsichtige formale Ordnung zeitgenössischer Feminismen, lässt jedoch inhaltliche Festlegungen offen und muss die Frage, wo und wie Transformation stattfindet, oftmals unbeantwortet lassen. Vielmehr macht Grammatikopoulou vielerorts nichtauflösbare Widersprüche aus, Uneindeutigkeiten zwischen Aktivismus und Noise, zwischen Empowerment und Selbst-Objektivierung, zwischen Konsumkultur und politischem Anliegen, um letztendlich genau das als das Bezeichnende des zeitgenössischen Feminismus festzustellen: das Verschwimmen eindeutiger Grenzziehungen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass all die identifizierten Strategien und Konzepte auch in anderen politischen Spektren von Anti-Feminist_innen aller Couleur verwendet werden – womit sich die alte feministische Frage nach dem Zusammenspiel von Struktur und Inhalt erneut auftut...

Eine neue Dimension in der Technofeminismus-Debatte wird von Yvonne Volkart eröffnet. Wie schon der Titel „Techno-Öko-Feminismus“ andeutet, versucht sie, zwei antagonistische feministische Ansätze, nämlich Ökofeminismus und Technofeminismus, zu verbinden und dadurch einen transversalen, auf Relationalität gründenden Denk- und Handlungsraum zu eröffnen, der der komplexen Lage im Anthropozän angemessen ist. Ausgehend vom Bedrohungsszenario der möglichen Auslöschung der Menschheit beschreibt Volkart, wie die Anliegen eines frühen Ökofeminismus durch aktuelle techno-ökologische Strömungen reformuliert werden und diese mit zu den innovativsten Ansätzen bezüglich einem teilnehmenden und teilhabenden Leben in den ‚Naturecultures’*25 gehören. Zwar hat der Ökofeminismus der 1970er zentrale Postulate der heutigen ökologischen Krisendebatte vorweggenommen, allerdings führte seine Parallelisierung von Unterdrückung der Frau im Patriarchat und Ausbeutung der Natur und die damit verbundene Umweltzerstörung nicht selten zu Essenzialisierungen des gesellschaftlichen Natur- und Geschlechterverhältnisses. Die vor allem in den USA vorherrschende Richtung, die – unter Berufung auf die Reproduktionsfähigkeit von Frauen – grundsätzlich von einer positiven Beziehung zwischen Frauen und Natur ausging und Männern aufgrund von Techniknutzung die Unterwerfung und Ausbeutung von Natur zuschrieb, sorgte für Kontroversen und Ablehnung und legte nicht zuletzt eine generell kritisch-ablehnende Haltung gegenüber Technik nahe. Sich davon abgrenzende europäische Ansätze betonten früh ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Geschlecht und verwahrten sich gegen Zuschreibungen, die Frauen als fürsorglich und Männer als destruktiv und ausbeuterisch darstellten. Neuere Queer Ecologies führen diese Anti-Essenzialisierung weiter, indem sie die „Natürlichkeit“ des biologischen Reproduktionsprozesses und der Produktion des Lebens dekonstruieren. Dabei steht nicht nur die Naturalisierung von Geschlecht und Heterosexualität im Zentrum der Kritik, sondern es geht auch um die Entwicklung spezifisch situierter, „vielfarbiger“ Ansätze von Multispezies. Jeglicher Rückbezug auf natürliche Gegebenheiten wird in Frage gestellt: „Natur“ sei immer schon vorgeprägt durch die Konstruktion heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit, zudem fungiere sie als generalisierender, kompensatorisch-romantizistischer Gegenbegriff zur Technik im Kapitalismus. Bauhardt fasst zusammen: „Die queere Perspektive löst dieunselige Verquickung von Sexualität, Natürlichkeit und Geschlecht auf, um auf einer neuen Basis über soziale Reproduktionsverhältnisse verhandeln zu können.“*26 Der Öko-Techno-Feminismus vervollständigt diesen Diskurs durch die Einbeziehung von Technologie – und Techniken. Kapitalistische Technologien bringen qua ihrer Biomacht selbst Leben hervor. Deswegen können sie nicht mehr, wie in den 1970er Jahren, als von Körpern, Materie und Umwelt abgetrennte Instrumente zur Befreiung oder Unterdrückung betrachtet werden. Es gibt weder unberührte Natur noch gibt es „die Natur“ oder „die Technik“, sondern nur spezifische Bewegungen, Sedimentierungen und Verschränkungen in den mannigfaltigen Konstellationen von Technocultures, Kapital und materiellen Entitäten. Dabei ist die Erweiterung der Perspektive auf das Zusammenwirken von vielfältigen Handlungsträger_innen wesentlich; bis dato verdrängte Materialität kehrt zurück und wird mit eigenständiger Wirkmacht identifiziert.*27 Eine weitere Dezentrierung des Subjektes geht einher mit Vorstellungen von Materie als lebendig, artefaktisch und relational.

Volkart entwickelt ihre Theorie einer queerfeministischen, techno-ökologischen Relationalität anhand von zeitgenössischen künstlerischen Arbeiten. Dabei macht sie deutlich, dass die damit verbundenen Denk- und Handlungsansätze sich aus einer feministischen Tradition herleiten; dass sie nun aber, insofern sie „Fragen nach dem Zusammenleben, nach Tier- und Pflanzenrechten, Empathie und Sorge, Reparieren und Heilen“ stellten, auch beginnen, „in dominante Theorie- und Kunstdiskurse einzudringen“. Dabei würden nicht zuletzt auch Alltagspraxen und Aktivismus affiziert werden. Das lange unterlassene Zusammendenken von sozialen und ökologischen Krisen widerspiegelt sich in der Sehnsucht nach Lebendigkeit, Präsenz, Affekt und Relationalität, aus der – im Angesicht des Katastrophischen – Transformationskraft erwachsen kann.

Schließlich stößt Isabel de Sena eine lange überfällige Kritik des Xenofeminismus an, indem sie sich einige seiner Grundkonzepte genauer ansieht. Der Begriff Xenofeminismus, direkt verbunden mit dem Kollektiv Laboria Cuboniks und dem von ihm verfassten Manifest, ist aufgrund seiner affizierenden Sprache und dem hohen Abstraktionsniveau, auf dem die Gruppe ihre Thesen entwickelt, nicht leicht zu durchdringen. Changierend zwischen künstlerischem Prank und echtem politischem Anspruch performt die Gruppe seit 2014 in zahlreichen Events im Kunstbetrieb, ohne dass bisher eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den, vom Akzelerationismus stark beeinflussten, teilweise extrem provozierenden und, wie de Sena aufzeigt, auch feministischen Grundprinzipien entgegengesetzten Inhalten, stattgefunden hätte. Die Autorin tut, was bisher noch niemand tat; sie nimmt das Manifest und die darin enthaltenen Konzepte und Thesen ernst, indem sie einigen davon auf den Grund geht. Obwohl nur als vorläufige Notizen – und nicht als Fundamentalkritik – gemeint und formuliert, wird schnell deutlich, wie die unter der futuristisch glänzenden Oberfläche gärenden Ungereimtheiten und Widersprüche den xenofeministischen Anspruch auf Logik und Vernunft frustrieren. Und nicht nur das. Trotz der vielen originellen und diskussionswürdigen Ideen scheint damit die Übersetzbarkeit in eine, wie auch immer geartete, Praxis schwierig bis unmöglich. Die hier formulierte Kritik möchte einen Dialog anregen und dazu beitragen, Xenofeminismus zu transponieren und damit mit anderen (Techno-)Feminismen des 21.Jahrhundert anschlussfähig zu machen.



*1 Wajcman, Judy, Technofeminism, Cambridge: polity, 2004.
*2 Ebd., S. 83 (Übersetzung C.S.)
*3 Der Essay „Ein Manifest für Cyborgs“ erschien erstmals 1991 in Simians (Hg.), Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature (New York: Routledge,), S.149–181. Die deutsche Übersetzung ist zu finden in: Die Neuerfindung der Natur, Campus 1995.
*4 Vgl. Harrasser, Karin, “Herkünfte und Milieus der Cyborg,” in Die Untoten—Life Sciences & Pulp Fiction (Hamburg: Kampnagel 2011), http://www.untot.info/65-0-Karin-Harrasser-Herkuenfte-und-Milieus-der-Cyborgs.html.
*5 Vgl. Wajcman, Technofeminism, S. 63.
*6 Helen Hester spricht von „political disidentification“, in: „After the Future: n Hypotheses of Post-Cyber Feminism, http://beingres.org/2017/06/30/afterthefuture-helenhester/.
*7 Vgl. Sollfrank, Cornelia, „Revisiting the Future. Cyberfeminism in the 21st Century“, in: Bishop, Ryan, Gansing, Kristoffer, Parikka, Jussi, Wilk, Elvia (Hg.), across & beyond – A transmediale Reader on Post-digital Practices, Concepts and Institutions, Berlin: Sternberg Press, 2016 (S. 228-247). *8 Beispiele für das wenig kritische, wiederauflebende Interesse an Cyberfeminismus: Peteranderl, Sonja, „Die Pionierinnen des Cyberfeminismus sagen den Tech-Cowboys den Kampf an,“ WIRED Germany, 2.Juni 2015, https://www.wired.de/collection/life/das-cyberfeminismus-kollektiv-vns-matrix-macht-eine-kampfansage; Evans, Claire L., „We are the Future Cunt: Cyberfeminism in the 90s,” Motherboard, 20.November 2014, http://motherboard.vice.com/read/we-are-the-futue-cunt-cyberfeminism-in-the-90s.
*9 Die „Post-Cyberfeminist International“ fand im November 2017 im ICA in London statt, https://archive.ica.art/whats-on/season/post-cyber-feminist-international. Das Festival „1st Interrupted = Cyfem and Queer“ fand im April 2018 in Berlin statt, http://interrupted.creamcake.de/.
*10 Vgl. Text von Spideralex in diesem Band.
*11 Vgl. Text von Isabel de Sena in diesem Band.
*12 Vgl. Barad, Karen, Agentieller Realismus, edition unseld: Berlin, 2012
*13 Vgl. Text von Yvonne Volkart in diesem Band.
*14 Ebd.
*15 Vgl. Guattari, Félix, Die drei Ökologien, Wien: Passagen, 2012 (original auf Französisch: Trois Ecologies, 1989), und „Für eine Neubegründung sozialer Praktiken“, in Ökologien der Sorge, transversal: Wien, 2017.
*16 Vgl. Haraway, Donna, Das Manifest für Gefährten: Wenn Spezies sich begegnen - Hunde, Menschen und signifikante Andersartigkeit, Merve Verlag: Berlin, 2016; Donna Haraway, Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Campus Verlag: Frankfurt/ New York, 2018.
*17 Vgl. Puig de la Bellacase, Maria, „Ein Gefüge vernachlässigter Dinge,“ Ökologien der Sorge, Wien, transversal, 2017.
*18 Vgl. de la Bellacasa, S. 164.
*19 Guattari, Félix, „Für eine Neubegründung sozialer Praktiken“, Ökologien der Sorge, Wien: transversal, 2017, S. 210.
*20 Seier, Andrea, Remediatisierung. Die performative Konstruktion von Gender und Medien, Münster/Hamburg/Berlin/London: Lit Verlag, 2007, S.26-32.
*21 Vgl. Sophie Toupin in diesem Band.
*22 Vgl. Grammatikopoulou in diesem Band.
*23 https://gendersec.tacticaltech.org/wiki/index.php/Complete_manual.
*24 Vgl. Volkart in diesem Band.
*25 Der Begriff „naturecultures“ wurde von Donna Haraway geprägt und charakterisiert die Gleichursprünglichkeit von Natur und Kultur. Laut Christine Bauhardt stellt er einen interessanten Versuch dar, „die binäre Opposition der beiden Konstrukte aufzulösen und ihre wesensmäßige innere Verknüpfung sprachlich zum Ausdruck zu bringen“. (Bauhardt, Christine, „Feministische Ökonomie, Ökofeminismus und Queer Ecologies – feministisch-materialistische Perspektiven auf gesellschaftliche Naturverhältnisse“, in: gender...politik... online, https://www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/ Bauhardtfemoekonomie/Bauhardt.pdf)
*26 Ebd.
*27 Vgl. Karen Barads Konzept des „agentiellen Realismus“.