BETRIFFT NICHT CORNELIA SOLLFRANK ALLEIN: DER DIALOG ALS BEDINGUNG ÄSTHETISCHER PRODUKTION Rahel Puffert |
Versucht man sich einen Überblick über Cornelia
Sollfranks »Gesamtwerk« zu verschaffen,
dann bieten sich verschiedene Arbeitsschwerpunkte
an, welche wiederum die Zuordnung zu
einem Bündel an Diskursen aktueller Kunstproduktion
erlauben. Diverse und sich wandelnde
künstlerische Strategien zu verwenden, Hybridität
zu verkörpern, Vielfalt bei der Medienwahl
einzusetzen und verschiedenste Felder und Präsentationsformen
zu kombinieren – all das hat
sich inzwischen als gangbare Möglichkeit durchgesetzt,
um ein künstlerisches »Profil« zu erlangen
und ist Teil des Image-Programms, welches
das Betriebssystem Kunst verwaltet und reproduziert.
Bei aller offensichtlichen Lust an den
perfekten Oberflächen der Unternehmens- und
Publikationskultur – der bis heute gern gelieferte
Eindruck vom glatten, gefügigen Profil geht
dennoch regelmäßig fehl, wagt man sich näher
an Sollfranks Arbeitsweise heran. »Programmierte Verführung« – so hat Ute Vorkoeper Sollfranks taktische Oberflächenarbeit und Rollenspiele treffend charakterisiert1 und auf jene Risiken und Nebenwirkungen verwiesen, die entstehen, wenn man es mit einer Künstlerin aufnimmt, deren Arbeit sich der letztgültigen Fixierung konsequent und erfolgreich entzieht. Das mag zum einen an Sollfranks vielschichtigem Spektrum an Arbeitsgebieten liegen, zum anderen an den diversen Rollen, die sie dabei jeweils einnimmt. Beides erschwert es, sich ein kohärentes Bild – eben ein Profil – der Künstlerin zu machen. Entscheidender noch scheint mir der Effekt zu sein, dass auch alle anderen Komponenten, die zur Entstehung ihrer Arbeiten beitragen (Material, NutzerInnen, Dienstleistungen, Rezeption, Verbreitung, Präsentation) neuen oder erweiterten Funktionen zugeführt werden. Konzeptuellen Ansätzen folgend rückt Sollfrank den jeweiligen Kontext, von dem sie ausgeht und in den sie hineinwirkt, in die Wahrnehmung. Die Gewichtungen der verschiedenen Parts für das Gesamtgeschehen werden dabei neu konfiguriert. Eigen- und Fremdanteile verlieren ihre Trennschärfe. Anstatt die Konzentration auf Sollfranks Künstlerin- Identität oder ihr Selbstverständnis weiter zu treiben, wie es das hastige Auf-der-Stelle-Treten der Betriebslogik vielleicht nahe legt und ohnehin tut, möchte ich hier die für Sollfranks Arbeit wiederholt als »zentral« ausfindig gemachte Infragestellung von traditionellen AutorIn- Funktionen und Rollenverteilungen zum Ausgangspunkt nehmen. Welche anderen Möglichkeiten eröffnen sich, wenn die konventionellen Rollenverteilungen fraglich werden? NET.ART GENERATOR – »WAS KANN ICH NOCH TUN? SOLL ICH NOCH WAS TUN?« (2) Am Beispiel der Netzkunstgeneratoren (seit 1999) verwies Vorkoeper auf den Spaß, den man als UserIn einer Bildproduktion haben kann, die der »Maschine die Arbeit überlässt«. Und sie machte auf den damit einhergehenden, wenngleich nicht automatisch einsehbaren Effekt des lustvollen Spiels aufmerksam: Jede Beteiligung trage nolens volens zum symbolischen und auch ökonomischen Profit der Künstlerin bei. (3) In ihrem Text »copyright © 2004, cornelia sollfrank« greift Cornelia Sollfrank diesen Aspekt auf und analysiert die verschiedenen »Instanzen«, die im Fall des net.art generators zur Kunstproduktion beitragen, nach urheberrechtlichen Gesichtspunkten: Computerprogramme, ProgrammiererInnen, UserInnen, OriginalurheberInnen, Ideengeberin. Das zweifach erstaunliche Fazit: Sollfrank stellt fest, dass sie sich aus juristischer Sicht zu Unrecht als Urheberin der generierten Bilder des von ihr konzipierten net.art generators bezeichnet, diese aber dennoch ausstellt und – so möglich – auch verkauft. Und sie schließt ihre Untersuchung mit einer für jede/n nachlesbaren Absichtserklärung: »Ich werde mich weiterhin bemühen, möglichst großen Gewinn zu erzielen und gleichzeitig daran arbeiten, bestehende Kategorien und Hierarchien des Kunstsystems zu unterwandern.« (4) Da es also offensichtlich nicht juristische Kriterien sind, die für Sollfranks künstlerische Entscheidungen handlungsleitend sind – welche sind es dann? Und was lässt sich über jenen – offenbar tiefer liegenden – Möglichkeitsraum aussagen, auf den sich Sollfrank beruft, wenn sie davon spricht »bestehende Kategorien und Hierarchien des Kunstsystems zu unter-wandern.« Ist es vielleicht möglich, Cornelia Sollfrank dort »unten« zu treffen? FEMALE EXTENSION – »THE CODE IS THE COLLECTIVE« (5) »Das Ästhetische ist ebenso wie das Juridische oder das Kognitive eine Variante des Sozialen« hat der russische Sprachphilosoph Valentin N. Vološinov formuliert. Kunst sei »kein Fall von einem fremden Element, das auf ein anderes wirkt, sondern von einer sozialen Formation, die eine andere soziale Formation berührt.« (6) Tatsächlich zeichnen sich besonders Sollfranks aktivistische und institutionskritische Interventionen dadurch aus, dass sie verschiedene »soziale Formationen« des kulturellen Felds »in Berührung« bringen. Im Falle von female extension (1997) erlaubte es die intimere Kenntnis einer bestimmten Netzkunst- »Praxis« Sollfrank, bei der Selbstüberschätzung der institutionellen Definitionsmacht anzusetzen, und den allgemein unterschätzten Potenzialen der Netzkunst zur Wirkung zu verhelfen. Mit der künstlichen und per Programmierung erstellten Vervielfältigung ihrer Autorschaft bewies sie den versierten Umgang mit dem Medium Internet. Dieser Trick war das logische Ergebnis, das sich aus der Notwendigkeit ergab, den Anforderungen und institutionellen Bedingungen für die Teilnahme zu entsprechen und dabei den Ethos und das Selbstverständnis einer Kunstauffassung nicht preiszugeben, auf die sie sich berief. An der Erfindung des taktischen Fakes hatte das vorgetäuschte Insiderwissen der institutionellen ExpertInnen insofern sogar Anteile, was es umso mehr ins Lächerliche zog. Bemerkenswert bleibt, dass Sollfrank – genau um einen aufklärenden Effekt zu erreichen – doch noch ihren Namen an die Stelle der fingierten AutorInnen setzte. Gerade weil sie einem Feld von AkteurInnen zuspielte, deren Interesse sich weniger an der individuell gefundenen Form ausrichtet als an dem Wert, den eine gefundene Form für kollektive oder kommunikative Prozesse hat, war sie dazu autorisiert. Nicht umsonst betont Sollfrank, dass sie female extension ohne die praktische Mithilfe und das Empowerment zahlreicher KoproduzentInnen gar nicht hätte durchführen können. Und nur indem Cornelia Sollfrank diese Aktion mit ihrem Namen zeichnete, konnte sie über die Regeln ihres Spiels aufklären. Nur so konnte es auch für alle anderen freiwilligen und unfreiwilligen TeilnehmerInnen von Erkenntnisgewinn sein. Manifest wurde der Gesamtverlauf des Wettbewerbs schließlich durch eine Reihe von Pressemeldungen. Damit übernahm selbst die Presse die für sie eher unübliche Rolle, zur Dokumentation eines künstlerischen Prozesses beizutragen. Und: Das desavouierende Versagen des Expertentums wurde einer Öffentlichkeit einsichtig gemacht, auf deren Ausbildung von Urteilskraft in Sachen Kunst in der Regel verzichtet wird. TAMMTAMM – KÜNSTLERINNEN INFORMIEREN POLITIKER (KIP) Auch bei der Aktion TammTamm – KünstlerInnen informieren Politiker (2005–08) bildete die konfrontierende Zusammenführung zweier sozialer Gruppierungen das bestimmende Prinzip der von Sollfrank erdachten Organisierungsform. Ausgangspunkt war hier ein Beschluss des Hamburger Senats, mit dem die Stadt dem ehemaligen Vorstandsmitglied des Axel Springer-Verlags Peter Tamm nicht nur ein städtisches Gebäude für seine kriegsverharmlosende Sammlung von Militär- und Modellschiffen überließ, sondern auch 30 Millionen Euro für dessen Renovierung und die Präsentation zur Verfügung stellte. Diese Entscheidung hatte bei einer großen Zahl von Kulturschaffenden heftigen Unmut erregt. Sollfrank moderierte ihre Idee, die 121 Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft, die den Beschluss zu verantworten hatten, in Einzelgesprächen mit jeweils einem/r Kulturschaffenden der Stadt zusammenzubringen. Die inhaltliche Ausgestaltung der Aktion war den teilnehmenden KünstlerInnen selbst überlassen; die Dokumentation der 121 Kontakte bzw. Kontaktversuche wurde auf einer von Sollfrank ins Leben gerufenen gemeinsamen Internet-Plattform (7) veröffentlicht. KiP operierte mit der Unterstellung, dass durch demokratische Wahl legitimierte politische RepräsentantInnen mit Kulturschaffenden in einen kritischen Dialog treten müssten. Wie bei female extension wurde auch hier ein demokratischer Anspruch und seine Schlagworte beim Wort genommen: »Bürgernähe«, »Dialogbereitschaft «, »Partizipation«. Vorausgesetzt wurde die grundsätzliche Bereitschaft von PolitikerInnen, ihre jeweiligen Entscheidungen, wenn schon nicht mit ExpertInnen zu beraten, so doch immerhin auf Nachfrage hin zu erläutern. Die Praxis erwies sich insofern als Korrektur dieser Unterstellung, als sich nur ein Teil der Abgeordneten gesprächsbereit zeigte. Ausflüchte oder Absagen waren die Regel; das Eingeständnis in die fehlende Sachkenntnis und zeitliche Überforderung die am häufigsten herausgestellte Erklärung. KiP konnte aber auch zeigen, dass Dialogbereitschaft für Künstlerlnnen keine Leerformel darstellt und kollektiver kulturpolitischer Einsatz trotz Individualitäts- und Konkurrenzdruck des Kunstbusiness möglich ist. female extension und KiP sind exemplarisch für Sollfranks Strategien der Überführung. Im Alltag verborgene Entscheidungsprozesse sowie Bewertungsgrundlagen, die für das Kunst- oder Kulturverständnis in einem bestimmten Feld charakteristisch sind, dringen an die Oberfläche. Zielgenau setzt Sollfrank ihre operativen Eingriffe dabei so ein, dass sie die Aufdeckung jener »Geschäftsgrundlagen «, mit denen jeweils gearbeitet wird, quasi von den AkteurInnen selbst ausführen lässt. Erst die Konfrontation verschiedener »sozialer Formationen« (Vološinov) schafft die Möglichkeit, Vergleiche anzustellen: zwischen dem, was als sprachlich artikulierter Anspruch kursiert, und dem, was sich im Dialog manifestiert. Verwandt mit soziologischen Testcases, stellen Sollfranks Interventionen Ergebnisse zur Verfügung. Sie liefern denjenigen empirisches Material, die sich mit reiner Spekulation oder dem »immer schon Gewussten« nicht zufrieden geben. THE THING HAMBURG / [ECHO]-LISTE – »THE MODE IST THE MESSAGE« Eine der vielleicht wichtigsten Botschaften von Cornelia Sollfranks Arbeit ist, dass der Austausch von Informationen und Argumenten und die kontroverse Diskussion über künstlerische Haltungen und Projekte, gesellschaftliche sowie kulturpolitische Nachrichten notwendig ist, um jene kritische Grundlage auszubilden, die zu den unabdingbaren Vorraussetzungen künstlerischer Produktion gehört. Die konsequente Untersuchung und Erprobung von Formen, die solche Dialoge in Gang setzen, ist wichtigstes Kennzeichen ihrer Arbeit. Mit der Einrichtung von [echo], einer Mailingliste zu »Kunst, Kritik und Kulturpolitik in Hamburg« begann Cornelia Sollfrank das künstlerische Experiment eines lokalen und gleichzeitig virtuellen Netzwerks für KulturproduzentInnen in Hamburg. Die seit Mai 2004 bestehende Liste gehört inzwischen ganz selbstverständlich zum Alltag ihrer derzeit ca. 850 Mitglieder. Die [echo]-Liste sowie die seit 2006 existierende »Internet-Plattform für Kunst und Kritik« THE THING Hamburg sind zwei Beispiele für den Aufbau von Internet-Formaten, die auf Dialog, Streit, Kontroverse, Kritik und Analyse setzen. Mit THE THING Hamburg knüpfte Sollfrank an die in den 1990er Jahren aufkommende Idee an, das neue Medium Internet für einen Austausch unter KünstlerInnen zu nutzen und eigene Formen des Schreibens über Kunst und der Kritik zu entwickeln. Das ursprünglich auf globale Vernetzung angelegte Konzept wandte Sollfrank auf die lokale Kunstszene Hamburgs an. Gemeinsam mit einer Gruppe von RedakteurInnen, die verschiedenen kulturellen und politischen Szenen Hamburgs angehören und gleichzeitig überregional engagiert sind, ging es darum, eine Struktur zu bauen, die eine konzentrierte Reflexion ebenso erlaubt wie die spontane Berichterstattung und kontroverse Diskussion. Beide Projekte können zum einen als Alternative zu einer Presselandschaft verstanden werden, die die aktuellen lokalen Kunstentwicklungen in der Regel ignoriert und ihre hypegesteuerte Aufmerksamkeit auch ansonsten nicht durch unabgesicherte Positionen verunsichern lässt. Aber auch die Unzufriedenheit mit den kulturpolitischen Rahmenbedingungen und einer von Lobbyismus und Seilschaften geprägten Entscheidungspolitik in den kunstpolitischen Gremien machte den eigenmächtigen Aufbau von Strukturen mehr als notwendig. Der permanente Rollenwechsel, mit dem Sollfrank selbst zu dem kommunikativen Geschehen auf der Liste und der Plattform beiträgt, ist auch hier Bestandteil der Formgebung und rahmendes Konzept zugleich. Für die [echo]-Liste wären an Rollen aufzuzählen: die an Diskussionen teilnehmende streitbare Sollfrank, die ihre »Gemeinde « mit den von ihr ausgewählten Beiträgen aus den Feuilletons der Tages- und Wochenpresse versorgende Contentlieferantin, die Kommentatorin, die mal schlichtende, dann wieder Fakten liefernde Moderatorin und die – teils durch Decknamen geschützte – Verunsichererin, die durch Falschmeldungen Szenarien entwirft und die Gutgläubigkeit ihrer LeserInnen überprüft. Weitere Funktionen lassen sich in Kenntnis der Gewitztheit Sollfranks imaginieren, schwerer jedoch nachweisen. Charakteristisch für Sollfranks Vorgehen ist allemal ihr fortwährender Wechsel zwischen Außenund Innenperspektive: Mal reiht sie sich in die Reihe der NutzerInnen ein, dann wieder betrachtet sie das Geschehen aus analytischer Distanz. Der im Alltag eingeübte Identifizierungsversuch eines jeden Gegenübers muss angesichts dieser Ebenenwechsel notwendig scheitern. Das Verhältnis zu Cornelia Sollfrank als Gegenüber bietet keine feststellbare Sicherheit, trifft zumindest aber solange auf etwas Unbestimmbares oder Unsicheres, als man den Fokus auf ein fixierbares Gegenüber richtet und dabei Kohärenz unterstellt. Diese Kohärenz bietet Sollfrank nicht. »I ALWAYS CONSIDERED OUR FORM OF ORGANISATION AS A KIND OF AESTHETICS.« (8) »Der Mensch fällt niemals mit sich selbst zusammen. Die Identitätsformel A=A ist auf ihn nicht anwendbar.« (9) Sollfranks virtuelle Identitätsvervielfachung, aber auch ihre Forschung an den Strukturen und Effekten von Sozialzusammenhängen, deren Teil sie selber ist, scheinen wie eine nachträgliche Vorführung von Michail Bachtins Analyse des Dialogischen. In Absetzung von der russischen Formalismusschule und traditionellen Ästhetiken war Bachtin zu der Überzeugung gelangt, dass es einer neuen philosophischen Fundierung der Ästhetik bedürfe, bei der die Interdependenzen zwischen Kunstwerk und kulturellem Kontext eine systematische Analyse und Begründung erfahren sollten. Sein Ausgangspunkt war das aus heutiger Sicht vielleicht bereits simpel anmutende, dabei aber doch weit reichende Vorhaben: »Das Wort nicht im Medium der Sprache und nicht im Rahmen eines aus dem dialogischen Verkehr gezogenen Textes erforschen, sondern gerade im Medium des Dialogischen, im Bereich des eigentlichen Wortlebens.« (10) Über einen längeren Zeitraum gesehen lässt die [echo]-Liste den Gedanken zu, den Widerhall von Artikulationen und Nicht-Artikulationen der beteiligten NutzerInnen als konkrete Manifestationen kunst- und kulturpolitischer Entwicklungen zu verstehen. So wichtig und notwendig die Wortbeiträge jedes/r Einzelnen sind, es geht bei Sollfranks Projekten eher um das Geschehen zwischen den Beteiligten. Also um das, was sich nach Bachtin »im Medium des Dialogs« an Bedeutungen entziffern lässt. Bachtins Auffassung des Dialogs entsprach keinesfalls der Idee einer vom Subjekt der Äußerung vollständig kontrollierbaren Bedeutung, vielmehr ist davon auszugehen, dass er die Ansicht seines Kollegen Valentin N. Vološinovs teilte – von dem sich die Forschung bis heute nicht einig ist, ob es sich nicht um ein Pseudonym des Literaturwissenschaftlers selbst handele. Vološinov hatte für die sich anwendende Sprache eine durch das jeweilige soziale Bezugssystem der Sprechenden mitgeschleifte »Ideologie der Alltagssprache« geltend gemacht. Die im Dialog entzifferten Bedeutungen seien im Wesentlichen auf den Abgleich oder die Konfrontation der aufeinander treffenden Wertsysteme rückführbar. Im Unterschied zur Alltagsprache seien Kunstwerke oder die Wissenschaft gestaltete Systeme und daher von der unregulierten, unfixierten inneren und äußeren Rede zu trennen. Auch sie seien nicht vollständig von den Ideologien des Alltagslebens isolierbar: So wie Werke aus der Alltagssprache hervorgehen, wirken sie auf diese zurück. Vološinov geht sogar soweit, zu sagen, dass die Werke außerhalb der lebendigen wertenden Wahrnehmung aufhören zu existieren. Entscheidend sei, dass Werke immer nur im Rahmen ihres wahrgenommenen Kontextes ihre Wirkung entfalten. (11) Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass die Reaktionen und die Wahrnehmung durch die Konfrontation mit den bearbeiteten Sprachsystemen ihre Verortung im Ideologischen enthüllen. Vielleicht besteht darin die Parallele zu Sollfranks Unterfangen: Ihre rahmenden Formgebungen böten dann jenes Relais, mit dessen Hilfe die aufeinander treffenden Äußerungen in ihrer Dialogizität wahrnehmbar werden. Die scheinbar neutralen Formate ermöglichen die Sichtbarkeit Einzelner immer nur als Beitrag und in Relation zu den anderen Stimmen und Äußerungen. Die Relationen werden als Reibung, Reaktion, Allianz, Ignoranz etc. zu den anderen Äußerungen interpretier- und bewertbar. Das bietet auch die Möglichkeit, ideologische, also unreflektierte, Verankerungen des jeweiligen Sprechens besser durchschauen zu lernen. Im günstigsten Fall nicht nur die der anderen, sondern auch die eigenen. Die dialogischen Projekte bilden damit die konstruktive Seite von Sollfranks Beitrag zur Tradition der künstlerischen Institutionskritik. Gerade künstlerische Arbeiten mit dekonstruktivem Anspruch wie die »institutional critique« hatten paradoxerweise durch ihren Erfolg vorführen können, wie schnell ihre Praxis zur »l’art pour l’institution« (12) umcodiert wird und sich in den Dienst der kosmetischen Imageverbesserung begibt. VertreterInnen mit explizit politischem Anspruch versuchen dieser Paradoxie zu entgehen, indem sie ihr Arbeitsfeld vorwiegend in einen anderen »öffentlichen Raum« verlagern. Auf institutionelle Resonanzverstärkungen verzichtend stellen sie ihre spezifischen Kompetenzen in Selbstorganisationsprozessen außerhalb des offiziellen Kunstkontextes zur Verfügung. Sollfranks Wahl der Kontexte zeichnet sich hingegen durch den Wechsel und die Reibung erzeugende Verschränkung von institutionellen und selbstorganisierten Arbeitszusammenhängen aus. Die Arbeit an den Formen für die Organisierung geht hier mit der Kritik an den bestehenden Strukturen einher. So augenfällig die realpolitischen und juristischen Beschränkungen künstlerischer Freiheit dabei regelmäßig werden – es sind nicht die Register des Juristischen oder des Politischen, die Sollfranks Entscheidungen tragen. Es sind die Register einer Kunst, die die Ästhetik als eine mögliche »Variante des Sozialen« (Vološinov) entdeckt hat und von daher schützt, behauptet, in Frage stellt, überprüft, verteidigt, pflegt und so attraktiv, lustvoll aber auch praktikabel zu gestalten versucht, wie es die Bedingungen erlauben. Und da dieses Unternehmen keinesfalls von einer Person allein bewerkstelligt werden kann, ist es von der ständigen Suche nach Verbündeten, WeggefährtInnen und MitspielerInnen begleitet, die zwischenzeitlich damit rechnen müssen, auf ihre mitgeschleiften und unhinterfragten Bewertungsgrundlagen verwiesen zu werden. Nicht schlimm, so lange man die entstehende Peinlichkeit nicht als Gesichtsverlust interpretiert, sondern als Zeichen dafür versteht, dass dieses schwer durchschaubare Ding – die Kunst – einen eben (nicht alleine) betrifft. (1) Vgl. Ute Vorkoeper, »Programmierte Verführung. Cornelia Sollfranks Netzkunstgeneratoren testen das Autorenmodell«, in: net.art generator. Programmierte Verführung, Nürnberg, 2004, S. 8–13. (2) Cornelia Sollfrank: »copyright © 2004, cornelia sollfrank«, in: net.art generator. Progammierte Verführung, Nürnberg, 2004, S. 55. (3) Vgl. Ute Vorkoeper, »Programmierte Verführung. Cornelia Sollfranks Netzkunstgeneratoren testen das Autorenmodell«, in: net.art generator. Programmierte Verführung, Nürnberg, 2004, S.12. (4) Cornelia Sollfrank: »copyright © 2004, cornelia sollfrank«, in: net.art generator. Programmierte Verführung, Nürnberg, 2004, S. 56. (5) »The mode is the message, the code is the collective« war der Slogan von Old Boys Network (OBN) und zugleich das Arbeitsprinzip des Netzwerks. OBN war die erste internationale Allianz von Cyberfeministinnen, die Cornelia Sollfrank 1997 mitbegründete und die sie fünf Jahre lang maßgeblich prägte. (6) Valentin N. Vološinov, »Discourse in Life and Discourse in Art«, in: I.R. Titunik, Neal H. Brunss (Hg.), Freudianism: A Critical Sketch, Indiana, 1987, S. 95 [Übersetzung, RP]. (7) http://news.web-hh.de/tamm.php, Stand: 5.2.2009. (8) Cornelia Sollfrank im Interview mit Maider Zilbeti über ihre Arbeit mit OBN, in: Zehar #63 (August 2008), S. 9. (9) Michail M. Bachtin, »Der Held im polyphonen Roman«, in: Ders., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt/M., 1996, S. 129. 10 Ebd., S. 100. (11) Vgl. Valentin N. Vološinov, »Discourse in Life and Discourse in Art«, in: I.R. Titunik, Neal H. Brunss (Hg.), Freudianism: A Critical Sketch, Indiana, 1987, S. 93–116. (12) Vgl. Jochen Becker, »L´art pour l´institution. Die bezahlte Kritik«, in: Kunstforum International 125, 1994, S. 217ff. |
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